27.10.2025
Die Sonne bruzelt unbarmherzig auf mich herab. In den Städten ächzen die Menschen wegen der Hitze. Was will ich da in Paris? Planänderung! Ich bleibe am Rhein und bike an die Nordsee, war schon lange nicht mehr am Meer.
Spontanität muss eben gut überlegt werden! Vor fünf Jahren den ersten Abschnitt des Rheins gefahren, nun also den Rest. Nach Den Hoeg zur Mündung, dann sehen wir weiter. In den Packtaschen befindet sich ja alles, was ich so zum Leben brauche.
Zwischen Köln, Düsseldorf, Duisburg prägt die Industrie die Landschaft. Erstaunlich aber, dass ich auch durch viel grüne unberührte Natur fahre. Wenn nur die Umleitungen nicht währen! Wieder mal wegen einer Großbaustelle am Deich weiträumige Straßensperrung. Natürlich ist gerade jetzt mein Handy - Akku leer. Frustriert frusel ich mich durch falsche Wegweiser, ungültige Hinweistafeln und Baustellen durch. Fahre einen riesengroßen Umweg. Langsam wird es dunkel. Endlich, bei Lörisch ein kleiner Familiencampingplatz, wie immer viele Wohnwagen. Ich bin die einzige im Zelt, habe die ganze Wiese für mich. Nicht ganz, denn jede Menge zahme Kaninchen huschen neugierig um mein Biwak.
Der Niederrhein zeigt sich jetzt von seiner schönsten Seite. Der Radweg führt mich abwechselnd auf den Deich, durch schattige Alleen und idyllische Feuchtbiotope. Heute treffe ich auch einige Fahrradgruppen, die mit ihren flotten E - Bikes unterwegs sind. Oberdorf, ich bin schon um 15 Uhr auf dem Campingplatz. Die Sonne knallt immer noch. Damit ich mein Zelt im Schatten aufbauen kann, parkt ein freundlicher Dauercamper fürsorglich sein Auto um, nimmt gleich noch mein Handy zum Laden mit. Ich erkunde noch mal die Umgebung. Fährt sich echt leicht, ohne Gepäck.
Millingen, die Grenze nach Holland ist nicht groß beschildert, aber der Grenzübertritt fällt auch so gleich auf. Plötzlich sind viel mehr Radfahrer unterwegs. Dass auch hier fast nur mit Motor geradelt wird, überrascht mich schon. Je näher ich an die Nordsee komme, umso stärker wird der Wind. Ich setze mich erst mal in ein kleines Café und genieße eins der beliebten Rosinenbrötchen. Der Rhein - Radweg heißt jetzt Rinfietsroute und verzweigt sich in mehrere Mündungsarme. Auf der Deichkrone, asphaltierte Radwege, durch faszinierende Flusslandschaft komme ich gut voran. Auch das kleinste Dorf hat gut ausgebaute Radwege. Ein wunderschöner Campingplatz in Nijmegen. Heute bin ich fast 90 km gefahren, war ja keine Steigung, aber der Wind kam natürlich wie immer von vorn. Ein netter Dauercamper beobachtet mich. „Darf ich helfen?“ In der Hand hält er einen Adapter zum Aufladen meiner Technik.
Die Nächte sind jetzt saukalt, ich zieh alles an, was ich in meinen Taschen so finde. Der Radweg führt durch touristisch kaum erschlossene Gebiete zwischen verschiedenen Rheinarmen. Ich passiere hübsche kleine Städte mit holländischem Flair. Na klar, treffe ich auch immer wieder auf historische Windmühlen. Soll ich den Nationalpark Biesbosch mitnehmen? Ich muss dann einen Umweg fahren. Der Campingplatz liegt im Nationalpark, er gehört zu einem Hotel. Wieder mal bin ich der einzige Radfahrer. In der Nacht prasselt der Regen unaufhörlich auf mein Zeltdach. Als er nachlässt, radele ich los. Das Zelt wird pitschenass eingepackt. Nebelschwaben ziehen durch ein Labyrinth aus Inseln, Schilfflächen, kleinen und großen geheimnisvollen Gewässserarmen. Die Landschaft ist berauschend schön. Eine mystische Atmosphäre zieht mich total in ihren Bann. Was stört da schon der Nieselregen.
Am nächsten Tag bin ich in der Hafenstadt Rotterdam. Im 2. Weltkrieg fast vollständig zerstört, mit einer einzigartigen modernen Architektur wieder aufgebaut. Der Campingplatz ist etwas ungepflegt, aber er liegt mitten im Stadtzentrum.
Nach 648 km bin ich in Hoek van Holland endlich an der Nordsee. Wusstest du, dass das Quellwasser vom Rhein drei Wochen braucht, bis es ins Meer fließt? Tief atme ich die salzige Meeresluft ein, gönn mir ein leckeres Matjesbrötchen. Im Sturzflug kommt plötzlich eine freche Möwe und reißt mir mein Mittagessen aus der Hand.
Ich arbeite an meiner mentalen Stärke und steige bei jetzt nasskaltem windigem Wetter wieder auf meinen beladenen Drahtesel, um auf dem Nordseeradweg weiter zu radeln. Gebadet habe ich noch nicht, nur die Füße ins Meer gehalten. Ich glaube mal, das zählt nicht.
Der Küstenweg schlängelt sich bergauf und bergab durch die mit Sanddorn, Strandhafer u.a. bewachsenen Dünen. Wunderbare Ausblicke auf das brausende Meer. Hier ist Urlausgebiet. Rennradfahrer und E - Biker überholen mich. Das schlaucht, ehrlich. Der Wind bläst wie verrückt, nur mit allerlei Tricks schaffe ich es, auf dem kleinen Campingplatz endlich meine Behausung aufzubauen. In Haarlem füll ich meine Vorräte auf und gönn ich mir eine erfrischende Pause. Mein Tagesziel aber ist Aalkmar, eine wunderschöne alte Stadt mit vielen Sehenswürdigkeiten. Der Campingplatz ist super ausgestaltet, es gibt Tische und Bänke für Zeltler, sogar eine Badestelle. Heute ist Käsemarkt. Von überall her kommen Touristen, um das Spektakel zu sehen. 30 Tonnen Käse werden pro Markttag verkauft. Die Käseleiber liegen in langen Reihen aufgebaut. Dann wird gefeilscht und der Kauf mit Handschlag besiegelt. Weiß gekleidete Träger schleppen den Käse auf Holzkuven im Laufschritt über den Marktplatz. Ein Jahrhunderte altes Spektakel.
Am nächsten Morgen will ich entspannt wieder an die Nordsee fahren, nach Den Helde dann auf die Insel Texel. Ich habe aber nicht mit so starkem Wind gerechnet. Mit aller Kraft muss ich mich gegen die Böen stemmen. Die Knie meckern, die Handflächen, der Po, eigentlich alle Glieder schmerzen. Durchschnittstempo 9 km! Ab und an knattert ein Jugendlicher auf einem Moped vorbei. Das hebt auch nicht meine Laune. Am Himmel ziehen schwarze Wolken auf. Den geplanten Campingplatz in Den Helder gibt es nicht mehr, meint ein Radler und lädt mich ein, bei ihm zu übernachten.
Ausgeruht besteige ich am Morgen die Fähre nach Texel, der größten Westfriesischen Insel, ein einziges Naturparadies. Nur 7 Euro kostet die Überfahrt mit dem Rad hin und zurück. Viele Bauern haben hier kleine gemütliche Campingplätze errichtet. 3 Tage will ich auf der Insel bleiben, im Meer baden, in der Sonne liegen. Daraus wird aber nichts, eine Kaltfront zieht über das Eiland. Nachts sind es nur 8 Grad und wir haben doch Sommer. Das ist nicht fair! So erkunde ich jede Ecke der Insel mit dem Rad, besichtige die riesige Dünenlandschaft, Blick über das weite Wattenmeer und entdecke die Inselseele.
Mit der Fähre geht es wieder ans Festland. Mein Ziel ist Amsterdam. Die Hauptstadt mit ihren schmalen Häusern mit Giebelfassaden, den verzweigten Grachten und Museen wirkt viel beschaulicher als das brodelnde Rotterdam. Radfahren gehört zur Stadtkultur. Ich übernachte im Hostel des Hotels Meininger. Mit dem Flixbus reise ich für 28 Euro zurück nach Leipzig. 12 Euro kostet mein Bike. Nach langer Zeit war ich wieder mal am Meer. Mein Tacho zeigt 1 180 km an. Paris muss warten. Mit dem Bio - Fahrrad und Zelt reisen ist ein beglückendes Gefühl von Freiheit und Leben.
Ute Ritter