© Markus Gleichmann

Fünf Tage über den Kamm – Eine Durchquerung der Niederen Tatra

27.10.2025

Wer sie von West nach Ost überschreiten will, begibt sich auf eine der eindrucksvollsten Trekkingrouten Mitteleuropas – den Weg der slowakischen Helden.

Für uns als Familie – zwei Erwachsene und zwei Kinder, zwölf und zehn Jahre alt – war es im Sommer 2025 die bisher längste und forderndste Tour. Nach einer Woche im Slowakischen Paradies zog es uns weiter in die Berge. Die Rucksäcke waren schwer, denn Zelte, Verpflegung und Ausrüstung mussten mit. Ein Dörrautomat, unser Weihnachtsgeschenk des Vorjahres, erwies sich dabei als unscheinbarer Held: Getrocknete, selbst zubereitete Mahlzeiten sparten Gewicht und sorgten doch für kleine kulinarische Lichtblicke nach langen Tagen.

 


Ein Start mit Hindernissen

Schon die Logistik verlangte Planung. Mit dem Zug ging es nach Banská Bystrica, von dort per Taxi zum Ausgangspunkt nach Donovaly. Unser Auto wartete bereits am Zielort Telgárt – das beruhigte, auch wenn der verspätete Start erst um 11 Uhr erfolgte.

Der erste Tag war lang. 25 Kilometer, 1600 Höhenmeter, fast durchgängig über der Waldgrenze. Immer wieder begegneten uns Teilnehmer eines Ultrawanderevents, die dieselbe Strecke in nur 24 Stunden laufen wollten. Während sie leichtfüßig vorbeizogen, stapften wir Schritt für Schritt in die Weite des Kamms. Gegen 19 Uhr erreichten wir die Ďurková-Hütte – erschöpft, glücklich, frierend. Die Nacht im Zelt auf 1700 Metern brachte bei sieben Grad und Wind erste Lektionen in Sachen Höhenklima.

 


Geburtstagslieder im Sturm

Am zweiten Tag zeigte sich das Gebirge von seiner rauen Seite. Nebel, Regen, gefühlte null Grad. Gut, wer Mütze, Handschuhe und Schlauchschal auch im Juli dabei hat. Ziel war die traditionsreiche Štefánika-Hütte, wo wir nicht nur Schutz fanden, sondern auch einen besonderen Moment erlebten: Unsere Tochter feierte dort ihren 12. Geburtstag. Die junge Hüttenmannschaft ließ sich nicht lange bitten – sie stimmte ein improvisiertes Ständchen an, das in Erinnerung bleibt.

Am nächsten Morgen standen wir früh auf, um den Ďumbier (2043 m), den höchsten Gipfel der Niederen Tatra, zu besteigen. Die Sonne brach durch, und plötzlich lag die Welt offen: Im Norden die Hohe Tatra, im Süden das ungarische Tiefland. Auf der Hütte trafen wir Tim, einen Studenten mit deutschem Vater, der sich als Sherpa sein Studium verdient. „Es ist hart, jeden Tag Lasten hier heraufzutragen. Aber es ist meine Heimat – ich liebe diesen Ort und hier oben fühle ich mich frei,“ sagte er. Worte, die uns den ganzen Tag begleiteten.

 


Zwischen Wald und Bären

Der dritte Tag führte uns hinab in die waldreichen Karpaten. Der Weg war schmal, matschig, stellenweise einsam. Viele Wanderer fürchteten die rund 6000 Bären im Nationalpark. Wir sahen keinen – vielleicht dank unserer „natürlichen Bärenglocken“, wie wir die Kinder bald scherzhaft nannten. Am Abend erreichten wir die Selbstversorgerhütte Ramža, wo das Feuer knisterte und der Rauch nach harzigem Holz roch. Die kleine Hütte war überfüllt mit jungen Wanderern, die laut lachten und sangen, bis der Slivovice seine Wirkung tat. Wir verbrachten eine ruhige Nacht im Zelt daneben – die bessere Wahl.

 


Quellen, Höhen und Horizonte

Die vierte Etappe war zäh: hinab auf 1200 m, dann wieder hinauf auf 1600 m. Der Höhenmeterzähler summierte unbarmherzig. Wer hier nicht weiß, wo Wasser zu finden ist, läuft schnell „trocken“. Doch am Ziel wartete die kleine Andrejcová-Hütte, einer jener Orte, die sofort Heimatgefühl auslösen. Zwischen Mai und Oktober gibt es dort Suppen, Getränke und Feuerholz – und bei klarer Sicht einen Blick bis zur Hohen Tatra, so klar, dass man fast ihre Bergseen zu erkennen meint.

Der Weg der Helden

Der letzte Tag führte wieder in die baumfreie Zone. Noch einmal weitete sich der Blick – über das Poprader Becken, über die südlichen Gebirge, bei klarem Wetter bis in die Ukraine. Der Kráľova hoľa (1946 m), Symbolberg der Slowaken, bildete den Abschluss und zugleich den Ausblick auf die Weite des Ostens. Der Weg trägt seinen Namen nicht zufällig: Cesta hrdinov SNP, „Weg der slowakischen Helden“. Entlang der Route erinnern Denkmäler an den Partisanenkampf gegen die nationalsozialistische Besatzung – Mahnmale aus Stein, zwischen Alpenrosen und Gras verborgen. Sie verbinden Landschaft und Geschichte auf stille, eindrucksvolle Weise.

Beim Abstieg nach Telgárt spürten wir diese eigenartige Mischung aus Erschöpfung und Erfüllung, die nur mehrtägige Touren hinterlassen. In der Ferne glitzerte das Autodach – unser Ausgangspunkt und zugleich Schlusszeichen einer Reise, die uns als Familie enger zusammengeschweißt hat.

Die Niedere Tatra ist kein Gebirge der Superlative, sondern eines der Stille. Weniger urtümlich als die Karpaten, ruhiger als die Hohe Tatra – aber mit einer Weite, die trägt. Und vielleicht ist es genau das, was wir von ihr mitgenommen haben: die Erkenntnis, dass echte Größe nicht immer in der Höhe liegt, sondern in der Erfahrung, sie gemeinsam zu durchqueren.

 


Markus Gleichmann

 

Tourdaten:

Route: West–Ost-Durchquerung der Niederen Tatra („Cesta hrdinov SNP“)

Etappen: 5

Distanz: 107 km

Höhenmeter: 5 540 m

Gehzeit: 42 h 37 min

Höchster Punkt: Ďumbier (2 043 m)

Beste Jahreszeit: Juni – September

Übernachtung: Hütten (Ďurková, Štefánika, Andrejcová), Zelt, Selbstversorgerhütten

Anreise: Bahn bis Banská Bystrica → Taxi nach Donovaly → Rückfahrt ab Telgárt

Besonderheiten: Nationalpark / Bärenschutzgebiet, lange Passagen oberhalb der Baumgrenze, Panoramablicke bis zur Ukraine